Donnerstag, 9. August 2012

"Und, wie war´s?"


7. August, Jinotega, La Cuculmeca

  
„Hallo meine lieben Freunde!

Ein letztes Mal melde ich mich heute aus Nicaragua, in ein paar Tagen werde ich wieder auf der Matte stehen. Frierend und mit aufgerissenen  Augen um mich blickend, wie ein Neugeborenes. Ohne Schreie, aber ebenso wenig selbstbestimmt in eine neue Welt treten. 

Seit einigen Minuten sitze ich vor der Tastatur, unschlüssig, welchem Thema ich mich zuerst zuwenden solle. Gerade dieser Tage bin ich dermaßen voller wirrer Gedanken, die sich nicht zu Ende denken lassen. Eine Art entspannender Meditations- und Reflektionsphase wäre jetzt angebracht, stattdessen hetze ich mich von Termin zu Termin, von Verabschiedung zu Verabschiedung. 
Meistens finde ich nicht die richtigen Worte, triviales „Leb gut“ oder ein geheucheltes „Wir sehen uns wieder“ sind mir eigentlich viel zu dünn. Heute habe ich mich von einer meiner Englischklassen verabschiedet, die Kinder höflich, emotionslos und die Eltern überschwänglich, rührend. Man kann es mir scheinbar nicht rechtmachen,  - oder doch, Hauptsache mit Stil, ein fester Handschlag und gut. 
Als ich an die Gespräche mit Don Orlando, unsere Feste am Seeufer, das Angeln, die ersten verkorksten Stunden denke, fasse ich den festen Entschluss wiederzukehren. 

Morgen dann zu meiner Lieblingsklasse, hinauf in die Berge, Río Negro. Einen guten Rum und Spiele im Gepäck will ich mich gebührend verabschieden. Erst seit wenigen Monaten kenne ich die Familien dort, und doch gehören sie zu meinen Liebsten. Fernab der städtischen Zivilisation, Stunden Busfahrt und Pferderitt entfernt lebt die große Familie von Don Alejandro in den nebeligen Bergen hinter San Rafael. Die kleine Finca im waldigen Bergtal, umgeben von Wasserfällen und sonst nicht viel, ist wohl der gemütlichste, wenn auch kälteste Ort den ich kennenlernen durfte. Drei Generationen leben hier nah beieinander, miteinander und bauen gemeinsam ein Auflugsziel für Ökotouristen auf. In der Isolation blüht und entblößt sich das Leben Nicaraguas mir auf seine natürlichste Weise: Unverdorbens Kinderlachen, die harte aber lohnende Arbeit auf dem Feld und am Tier, abendliches Beisammensitzen mit Geschichten. Ich fühle mich wohl und mal wieder an meinen Traum vom Bauernhof erinnert. Wenn ich doch nur kein verwöhntes, verwachsenes Kind des Überflusses wäre...

Río Negro, erfahrene Führerin

Cascada La Reyna



Ich und die Klasse im Dunkeln

Das Pferd ist in Wirklichkeit größer.




Jesús y Marisela


Hat sich denn daran vielleicht etwas geändert? Den Perspektivwechsel habe ich vollzogen, habe mich der Fremde und dem Anderen hingegeben so gut ich konnte. Der Versuch, mein altes Bewusstsein abzulegen, ist trotzdem grandios gescheitert. Meine Ansichten, gerade meine überkritische Beurteilung der Dinge konnte ich nicht überwinden. Ich dachte, unter einem anderen Himmel, auf anderen Straßen, in anderen Häusern, mit anderen Menschen und einer anderen Sprache sei auch meine Rezeption eine andere, doch meine Augen, Ohren und mein Gehirn sind die gleichen geblieben. Was nicht heißt, ich hätte nichts gelernt, ich bitte euch... 

„Und...? Wie war´s denn nun? Was hast du gelernt? Hast du dich verändert?“ – diesen Fragen oder ähnlichen Fragen werde ich mich wohl bald stellen müssen. Heute beim Busfahren machte ich mir also Gedanken, nun, wie wirst du denn darauf antworten? Wie gesagt, noch schwirren meine Gedanken wild und ungeordnet, so etwas wie ein Fazit kann ich nicht geben. „Zack, Bumm, Nicaragua kriegt von mir ein Daumen hoch!“ – so einfach geht das nicht. Zu viele Erfahrungen habe ich gemacht, vermutlich werde ich noch Jahre brauchen, zu diesem oder jenem Erlebniss eine Stellung beziehen zu können.

Was mir wohl am positivsten vom Lebensstil der Nicaraguaner in Erinnerung bleiben wird, ist der Familien- und Gemeinschaftssinn. Hierin finde ich auch eine Erklärung für die allgemein zufrieden und glücklich erscheinde Gesellschaft, die sich gegen Bürgerkriege und Erdbeben behaupten konnte. Komprimiert in der einfachen Formel „Geteiltes Glück ist doppeltes Glück“ findet die Weisheit der Nicaraguaner ihren Ausdruck. Alleine lebt hier so gut wie niemand: Bis zur Heirat im Elternhaus, danach mit der neuen Familie. Unter einem Dach mit Eltern und Onkeln, Nachbar mit der Oma und Klassenkamerad der Cousine erhält Juansito viel mehr Rückhalt und schützendes soziales Umfeld als Hans. Man begleitet, stützt und hilft sich das ganze Leben lang. Erst heute berichtete mir Mirella, eine Kollegin, wie sie ausnahmslos jeden Tag ihren Vater besuchen geht. Das Leben findet draußen, mit anderen Menschen statt. Unserein sagt jetzt: Das geht auf Kosten der Freiheit. Im engen Familienleben verletzt man sich leicht, gerade die meist geliebten Personen können tiefen Wunden reißen. Doch im Angesicht der kollektiven Einsamkeit, wie sie in Deutschland herrscht; wo man sich lieber hinter geschlossenen Vorhängen alleine beschäftigt als eine Begegnung auf der Straße zu riskieren; den Blick abwendet wenn man einem Fremden zufällig in die Augen sieht; soziale Kontakte nur über die Legitimation des Sportvereines laufen und die intensivsten Freundschaften vor dem Computer entstehen – frage ich euch: Wo führt das hin?

Vielleicht kaufe ich mir also einen Plastikstuhl, und setze mich in den Vorgarten, winkend.

Wäsche, Kochen, Arbeiten, das sind Prozesse des Erwachsenwerdens und verdienen keine besondere Würdigung – ich überlasse es dann euch mir etwaige Entwicklungen nachzuweisen.        

Auf meinem ziemlich psychedelischen Hinflug notierte ich, mit der Erfahrung wachsen zu werden. Und damit habe ich, glaube ich, zumindest im Wortlaut  eine meiner Erkenntnisse vorweggenommen: Bei Betrachtung der nicaraguanischen Vegetation, knubbeliger Bäume auf moosiger Erde, mit parasitischen Pflanzen über und über bewachsen, musste ich immerwieder an alles überwuchende Mikroorganismen unterm Mikroskop denken. Alles Leben wächst und vermehrt sich...vermehrt seine Masse. Aus toter Materie wird Lebende...  könnte darin nicht der inhärente Sinn des Lebens liegen? Auch unser Sinn? Kinder bekommen und Leben vermehren.

Schöner fixer Gedanke.

Die im Juni beschrieben Zweiseitigkeit hat sich inzwischen zu einer Vielseitigkeit entwickelt, gerade in den letzten 2 Monaten scheint mir Nicaragua denkwürdige Ereignisse nur so vor die Füße zu werfen. Da diese Ereignisse in so vielfältigem Licht gesehen werden können, halte ich mich hier erstmal bedeckt. 
Bescheuerter Absatz, was?

Letzte Woche war ich ziemlich erstaunt, als eine Gruppe von deutschen Studenten meine Übersetzungskünste auf ihrer Studienreise beanspruchte – denn diese lieben Studenten stammten aus Darmstadt! Was für eine angenehme Überraschung, einen Haufen Heiner hier in Jinotega gehabt zu haben. 
Am Wochenende gab es noch die Abreise der Freiwilligen aus Managua zu betrauern, unter Vollmond am Pazifik. 

Alles neigt sich jetzt dem Ende zu, das letzte Mal Pferdereiten, Gallopinto essen, im Büro hängen... doch ich genieße es, denn die letzten Tage mit meinem Arbeitskollegen sind ziemlich schön. Elin, Carmen, Mirella, Mario, Juan, Moisés, Yasser und natürlich Maríe. Von meiner Behauptung, sie sei die Allerliebste nehme ich keinen Abstand. Mein ganzes Team. Alle. Freitag machen wir eine Abschiedsfeier hier, bin schon auf Tanzcompetition, Abschiedsrede etc. gespannt. 

Der Fakt, ein Jahr hier verbacht zu haben, klingt so unwirklich. Manchmal habe ich die Dauer gespürt, denke ich jedoch an die ersten Tage oder gar die Zeit vor Nicaragua zurück, so erscheint es mir geradezu ein komplett anderes Zeitalter gewesen zu sein. In einem Land vor unserer Zeit, so in etwa, Dinos und so. 

Ehe ich jetzt nurnoch Scheiße rede, oder gar wieder auf den Sinn des Lebens zu sprechen komme, mache ich hier mal Schluss.
Ich freue mich unendlich, euch wiederzusehen. Danke an alle Freunde, die mir geholfen haben.


Melde mich dann wieder aus Deutschland, und berichte euch von Mülltonnen in Reih und Glied.
Euer Marvin"

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