Dienstag, 6. Dezember 2011

Monatsbericht November: Der Durchschnittstag

Jetzt geht´s Schlag auf Schlag. Jinotega, den 6.12.2011


Monatsbericht November: Der Durchschnittstag

"Jeden Monat einen halbwegs interessanten Bericht vorzulegen ist nicht sehr einfach. Ich wage mich an ein alternatives Konzept, - die minutiöse Darstellung von Arbeit und Freizeit eines Arbeitstages.
Dieser Einblick wird wohl sehr viel spezieller, aber auch realitätsnah und hoffentlich aufschlussreich. Präsentiert wird euch ein „Durchschnittstag“, wie er sich vielleicht gestern, oder auch nie ereignet hat. Dabei kann ein einzelner Tag natürlich nicht representativ wirken, egal.

Der Tag beginnt mit der Nacht: Um 0:30 bin ich noch wach, -dummerweise. Mein Schlafrhythmus ist vom Wochenende noch verschoben, sodass ich mich in den Schlaf lese. Das „Glasperlenspiel“ von Hermann Hesse ist hervorragender Stoff dazu, voll von Denk- und Reflexionsanstößen bereitet er mich auf eine traumreiche Nacht vor.
Wer sich an seinen letzten Urlaub erinnert weiß: in der Fremde oder unter ungewohnten Bedingungen träumt man viel. Von Begegnungen, vom Wasserfall, von Pyramiden und auch den Daheimgebliebenen. Ich vermisse euch.
Ich schlafe gut und fest, von Hunden, Hähnen und Kleinkindern lasse ich mich schon längst nicht mehr wecken, sodass mich erst mein Wecker um 6:30 nach Nicaragua zurückholt. Zunächst einmal bin ich überrascht: „Tatsächlich, du bist in Nicaragua!“, denke ich. Mein Aufenthalt hier fühlt sich immernoch surreal an, -was ich tue, was ich denke ist so grundsätzlich verschieden von allem vorherigen.
Wer einmal seine Leidenschaft fürs Schlafen entdeckt hat, kommt davon nicht so leicht los. Und ich komme nur schwer aus dem Bett – geradenoch rechtzeitig um ohne Frühstück pünktlich in der Cuculemeca anzutanzen. Und nur mit Hilfe eines Taxis.
Mehr schlafend als wachend komme ich also ins Büro, volle Kaffeetasse bereits in der Hand, setze mich und beginne mit dem täglichen Broterwerb; mein Computer als treuer Gehilfe. Einige Informationen, die ich am Vortag im Centro de Salud erfragt habe, wollen abgetippt und versendet werden, Organisatorisches und bald auch der Gedanke an meinen überfälligen Monatsbericht drängen sich auf.
Dankbar bin ich für jede Art von Beschäftigung, trotzdem ertappe ich mich schon bald beim Chatten. Das Internet wird mich niemals in Ruhe lassen.
Die 4 Stunden am Morgen gehen vorbei, ein kurzer Besuch in der Stadt entlässt mich in die Mittagspause.
Ich entscheide mich dazu, mein Zuhause aufzusuchen. Im Bewusstsein schon wieder viel zu viel Geld verprasst zu haben, bereite ich mir Nudeln mit Tomatensoße, ein Gericht dass sich auch hier großer Beliebtheit erfreut. Manchmal gibt es auch Tortillas und Gallo Pinto mit Käse. Heute begegnet mir auf dem Weg ein Freund, der kurzerhand eingeladen wird. Wir essen und entspannen, bis ich wieder in Eile bin, mit dem Taxi noch rechtzeitig um 2 Uhr wieder im Büro zu sein.
Ich befinde mich zwar in Nicaragua, Lateinamerika, und nicht umsonst spricht man hier von der „Nicahora“(Uhrzeit plus ungewiss), - jedoch ist von meiner deutschen Pünktlichkeit, falls je vorhanden, so wenig übriggeblieben, dass meine Kolleginen mit Vorliebe eine Reihe von Witzen zum Besten geben...“Buenas noches Marvin!“.
Die Gestaltung des Nachmittags fällt schon schwerer. Nach verrichteter Arbeit und Tratsch im Büro – erwähnte ich die 5 Kolleginen? - lege ich also eine kurze Pause ein, im Sonnenschein dösend frage ich mich bald: „Was machst du hier? Bist du ein fauler Schmarotzer, was für ein Freiwilliger bist du eigentlich? Ein Tourist!“ Dann beschwichtige ich mich „...aber wenn man dir keine vernünftige Arbeit gibt, - kein Wunder!“
Glücklicherweise schaltet sich die Vernunft ein und gibt zu bedenken „Nächstes Jahr werden deine Aufgaben vielfältiger.“
Der Nachmittag verfließt nur langsam, trotz Unterbrechungen wie Kaffeepausen oder kleinen Aushilfen in anderen Büros. Manchmal schlendere ich von Büro zu Büro, um die vielen Mitarbeiter zu besuchen. Natürlich bin ich in der Cuculmeca und auch in Jinotega bekannt – doch das heißt nicht, dass ich mich nicht um Gesellschaft bemühen müsste. Wie auch immer, ich schlendere also herum, nach Sonne und Freunden dürstend, als sich die erste sogenannte „Gelegenheit“ des Tages ergibt.
Ich bezeichne dieses Phänomen als „Spontane Okkasion des Glückes“, immer wenn ich gerade allzu gelangweilt oder trübe gelaunt bin – erreicht mich das Schicksal. In diesem Fall nicht allzu spektakulär: Man gewinnt mich als Begleitung für einen kurzen Fincabesuch. Durch den Zauber des Camionetafahrens und der stets erstaunlichen, ja beeindruckenden Szenerie wird solch ein Ausflug zum Erlebniss des Tages. Eigentlich relativ unbegründete Euphorie erhellt mein Gemüt so immer aufs Neue. Auf dem Nachhauseweg zähle ich 7 Sternschnuppen. Das ist Durchschnitt.
Der wirklich anstrengende Teil des Tages folgt, nachdem ich um 7 Uhr zuhause angekommen bin: 3 Freunde erwarten mich schon vor der Tür. Zwei davon sprechen Spanisch, der dritte ziemlich gut Englisch – weshalb sich die Kommunikation als lustig, aber kompliziert erweist. Nicht nur die Sprache an sich ist manchmal sogenannte Barriere: Allzu oft endet ein Gespräch vorerst mit der allseitigen Bekundung – nunja, unterschiedliche Kultur, man könne sich nunmal nicht einhundertprozentig verstehen. Womit ich mich mittlerweile zufriedengebe. Das soll nicht als Zeichen von Resignation verstanden werden, aber man muss nachvollziehen, dass es durchaus ermüdent sein kann, eine solch unterschiedliche Kultur kennenzulernen, verstehen zu lernen. Ein Wort, ein Satz hat oftmals eine ganz bestimmte Bedeutung, gerade in der eher jugendlichen, slang-Sprache. So werde ich manchmal sehr merkwürdig angesehen - „Hat er das gerade wirklich gesagt?“, so wie auch ich mich frage, was zum Henker dies oder jenes zu bedeuten hat. „Loco“ zum Beispiel, „verrückt“ auf deutsch, bezeichnet man in Deutschland nur selten seinen unvertrauten Gegenüber. Genauso muss ich andersherum gehörig mit der Benutzung einiger Schimpfwörter aufpassen, da man hier gerne Rückschlüsse daraus zieht.
Wenden wir uns wieder der Gegenwart zu.
Wir sitzen also am Straßenrand, von Zeit zu Zeit in meinem Zimmer oder in der Taverne. Leute kommen und gehen, so viele Namen werde ich mir in 5 Jahren nicht merken können.
Ich freue mich, einige vernünftige Leute kennengelernt zu haben, die nicht ständig vollberauscht sind, so unterhalten wir uns über Musik und Nicaragua.
Und als sich die Versammlung um mich aufzulösen beginnt, eröffnet sich die zweite Okkasion: Wieder mal in Form einer Camionetta. Der energiegeladenen Menge wird geboten aufzusteigen, die lustige Fahrt um den Block beginnt. Allseits lachende Gesichter und die Absurdität der Situation führen mir wieder mal die unendlichen Möglichkeiten Nicaraguas vor Augen. Alles ist erlaubt und nichts ist unmöglich.
Knapp 2 Stunden später sitze ich wieder alleine in meinem Zimmer, unendlich ist nichts.
Immerhin werden hier zeitweise die Gesetze der Vernunft außer Kraft gesetzt, und mein verwöhntes, anspruchsvolles Ich ruhig gestellt.

Bald bin ich 4 ganze, lange Monate hier. Ein Drittel des Jahres. Unglaublich. Euer Marvin.

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